Cover
Titel
Hollywood auf dem Balkan. Die visuelle Moderne an der europäischen Peripherie 1900–1970


Autor(en)
Kaser, Karl
Reihe
Zur Kunde Südosteuropas
Erschienen
Köln 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
388 S., 89 s/w Abb.
Preis
€ 67,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dario Vidojković, Regensburg

Wenn man an „Hollywood auf dem Balkan“ denkt, so fallen einem hierzulande sofort wild zerklüftete Gegenden im ehemaligen Jugoslawien ein, an deren Schauplätzen, wie den Plitvicer Seen, in den 1960er-Jahren die Winnetou-Western entstanden. Diese Assoziation ist durchaus zutreffend, denn der „Western wurde zum beliebtesten Filmgenre des jugoslawischen Kinopublikums“ (S. 253). Hinzu kam, dass der langjährige jugoslawische Staatschef Tito selbst ein bekennender Westernfilmfan war.1 Entsprechend wurden Elemente des populären US-amerikanischen Westerns, wie Pferdejagden, in das ureigene jugoslawische Filmgenre integriert, nämlich den Partisanenfilm, sodass man zurecht von einem „Partisanen-Western“ sprechen kann, wie ihn „Ešalon doktora M.“ (1955, Regie: Živorad-Žika Mitrović) repräsentiert (S. 254). Doch um die Winnetou-Filme geht es Karl Kaser gar nicht.2 Kaser, Professor für Südosteuropäische Geschichte an der Universität Graz, liefert mit seiner Studie keine klassische Filmgeschichte, sondern zeichnet vielmehr die Entstehungsgeschichte des Kinos auf dem Balkan nach, wobei nicht ein einzelnes Land, sondern querschnittartig mehrere Balkanländer behandelt werden. Sein Buch ist damit als Kultur- und Sozialgeschichte angelegt und will aufzeigen, wie sich um die Jahrhundertwende das Kino etablieren konnte und welchen dominanten Einfluss Hollywood auf die Entwicklung der Filmproduktion in den verschiedenen Balkanländern einnahm. Da um 1900 noch das Osmanische Reich territorial weite Gebiete auf dem Balkan umfasste, bezieht Kaser in seine Darstellung, die bis in die 1970er-Jahre reicht, neben den damals unabhängigen Staaten wie Serbien (später in Jugoslawien aufgehend), Griechenland, Bulgarien und Rumänien auch die spätere Türkei oder Albanien mit ein.

Der Untertitel gibt die Marschrichtung der behandelten Themen vor. Die Stichworte sind die „visuelle Moderne“ sowie „europäische Peripherie“. Dabei versteht Kaser die visuelle Moderne „als Teil der industriekapitalistischen Moderne – als deren Ausdruck und vorläufiges Ergebnis gleichzeitig“ (S. 11). Denn um die Jahrhundertwende, am Abschluss eines mit technischen Innovationen wahrlich nicht armen Jahrhunderts, steht das Kino. Insoweit ist auch durchaus von einer „visuellen Moderne“ zu sprechen. Dies trifft umso mehr auf die Balkanländer zu, die ja im Vergleich zu Westeuropa um 1900 gerade nicht hochindustrialisiert, sondern weitgehend landwirtschaftlich geprägt waren (und die man in den westlichen Ländern deshalb als rückständig und orientalisch wahrnahm).3 Entsprechend bezieht der Autor die Balkanländer als „europäische Peripherie“ in seine Studie ein. Dies mag man, ausgehend von der Perzeption westlicher Länder und dem damaligen ökonomisch-politischen Entwicklungsstand des Balkans, so teilen. Doch läuft man dabei auch Gefahr, eigentlich längst als überholt geltende sowie damit zusammenhängend auch abwertende Sichtweisen auf den Balkan fortzuschreiben. Kaser, dies sei hier betont, tut dies in seiner Studie jedoch nicht.

Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis bestätigt, dass es sich hierbei um keine Filmgeschichte im klassischen Sinne handelt. In der Einleitung werden theoretische Überlegungen geboten sowie die Ziele und der Forschungsstand skizziert. Der Beschreibung der Etablierung des Kinos in den Balkanländern vorgeschaltet ist zunächst ein Kapitel, das sich mit der „moderne[n] Balkanhauptstadt um 1900“ (S. 33) sowie mit den ersten Schritten hin zur Europäisierung befasst. Insbesondere die Hauptstädte der unabhängigen Balkanländer befanden sich im Umbruch, der mit „Deosmanisierung“ gut charakterisiert ist (S. 44ff.). Gemeint ist der Versuch, sich an westeuropäische städtebauliche Vorbilder anzunähern und alles „osmanisch“ oder „orientalisch“ Anmutende abzureißen oder umzubauen, weil es als rückständig und nicht modern wahrgenommen wurde. Man könnte angesichts des Themas fragen, ob dieses Kapitel nötig sei, doch da Städte „als Fabriken modernen Lebens“ fungierten (S. 51), macht es durchaus Sinn, zuerst die Entwicklung der Balkanstädte um 1900 in Augenschein zu nehmen. Wie Kaser im Weiteren aufzeigt, hängt die visuelle Moderne eng zusammen mit der modernen Stadt, wie sie um 1900 im Entstehen begriffen war.

Im zweiten Kapitel widmet sich Kaser der Frage des Transfers visueller Kulturen, wobei auch hier zunächst auf die bis dahin tradierten bzw. vorherrschenden Bilderwelten und -kulturen eingegangen wird. Davon ausgehend schildert er die weitere Entwicklung hin zu der Etablierung des modernen Mediums Film bzw. Kino. Dem Kinematografen vorhergegangen war in Westeuropa die Fotografie. Kaser spricht in diesem Zusammenhang von einer „hegemonialen visuellen Moderne“ (vgl. S. 88f.). Denn vielfach stand man auf dem Balkan der Fotografie skeptisch bis ablehnend gegenüber, was vor allem für die dortigen orthodoxen Kirchen, aber auch für den Islam galt. Insoweit ist es kein überraschender Befund, dass die meisten auf dem Balkan tätigen Fotografen um die Jahrhundertwende Ausländer waren (meist Franzosen). Diese waren später auch die ersten Träger der Entwicklung einer Filmindustrie in den Balkanländern. Die wenigen einheimischen Fotografen, wie der serbische Fotopionier Anastas Jovanović, kamen zur Fotografie erst im (meist westeuropäischen) Ausland. Das Kino sei ohne die Vermittlung durch die Fotografie jedoch nicht denkbar, so Kaser.

Ab dem dritten Kapitel erfolgt die eigentliche Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich die visuelle Revolution, repräsentiert durch den Film, auf dem Balkan durchsetzen und entwickeln konnte. Kaser misst dabei insbesondere der Zeit von Mitte der 1950- bis zum Ende der 1960er-Jahre einen „Wendecharakter“ bei, da in dieser Zeitspanne „die Masse der Bevölkerung von dieser Form der populären visuellen Moderne erfasst und nicht wieder losgelassen“ wurde (S. 115). Aufgrund vor allem der wirtschaftlichen Situation verlief dieser Prozess auf dem Balkan „zögerlicher als im übrigen Europa“ (ebd.). In Europa tat sich bis 1914 als beherrschende Filmproduktionsfirma vor allem die französische Pathé hervor, wobei sie die Marktführerschaft auch auf dem Balkan errang. Hollywood wurde erst ab 1913 als Filmproduktionsstandort aufgebaut. So stellte der Filmproduzent Svetozar Botorić den ersten serbischen und auf dem Balkan gedrehten Spielfilm über Karadjordje 1911 in Zusammenarbeit mit Pathé her.

Thema ist auch das Kino als Ort. Bevor feste Stätten zur Filmvorführung aufgebaut wurden, war das Kino ortsungebunden. Erst später wurden, wie im übrigen Europa auch, feste Kinos erbaut. Nach 1918 wurde Pathé dann auf dem Gebiet der Filmproduktion durch Hollywood abgelöst, das sich innerhalb kürzester Zeit an die Weltspitze katapultierte. Der Grund dafür war „Hollywoods Charme“ (S. 199), also die Art und Weise, wie in Hollywood Filme gemacht wurden, aber auch ihr Inhalt, dargebotene Attraktionen und individuelle Charaktere, die stärker den Nerv des Publikums trafen als vergleichsweise europäische Produktionen.

Das sollte gerade auch auf die nach dem Zweiten Weltkrieg sozialistisch gewordenen Balkanländer zutreffen, was Thema des vierten Kapitels ist. Die Zeitspanne von 1920 bis 1950 kann als Höhepunkt des durch Hollywood dominierten kulturellen Transfers in den Balkanländern gelten. Besonders zwischen 1950 und 1970 sollte sich dieser Trend allmählich umkehren. Wichtig hierfür war die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Industrialisierung in den meisten, noch immer vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Balkanländern. Damit einhergehend etablierten sich zunehmend einheimische Filmproduktionsfirmen. Viele, wie das Beispiel Jugoslawien veranschaulicht, orientierten sich am populären Stil Hollywoods, um damit das Publikum für die eigenen Filme (und die darin enthaltenen ideologischen Botschaften vor dem Hintergrund des Kalten Krieges) geneigter zu stimmen. Insgesamt ist festzuhalten, dass Hollywood besonders ab den 1960er- bis 1970er-Jahren an Hegemonie einbüßte, auch was den kulturellen Transfer betraf, und es in der Folge zu nationalisierenden Tendenzen kam. Der Grund dafür war nicht nur die Verschmelzung der US-amerikanischen und Moskauer Vorbilder, sondern ferner die Adaption lokaler Gegebenheiten, die diesen Filmen einen eigenständigen, nationalen Touch verlieh. Deshalb spricht Kaser hier auch zu Recht von der „zweiten visuellen Revolution“ (S. 310). Dem Text folgt ein Epilog (S. 325–342).

Angehängt ist eine etwas spärlich ausgefallene Filmografie. Neben den Filmtiteln und dem Produktionsjahr werden lediglich noch die Produzent/innen und Regisseur/innen aufgeführt. Eine Erweiterung um Kameraleute, Drehbuchautor/innen, Schauspieler/innen sowie die Spielfilmlänge wäre wünschenswert gewesen. So hätte das Werk zugleich einen Kompendiumscharakter gehabt. Ergänzt wird der Text durch 89, vielfach erstmals veröffentlichte Fotos von Regisseur/innen, Schauspieler/innen oder Filmpostern von Filmen aus der Balkanfilmproduktion. Ein Verzeichnis der im Text verwendeten Tabellen sowie ein Literatur- und Personenverzeichnis runden das Werk ab.

Kaser bilanziert, dass die zweite visuelle Revolution nachhaltiger war als die erste, die in die Zeit von 1900 bis 1945 fiel. Fotografie und Film entwickelten sich zwar in dieser Zeit rasch zum Massenphänomen, was jedoch „noch nicht Ausdruck einer Industriegesellschaft“ war (S. 322). Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sich das alles grundlegend ändern. Das Kino war nun „keine ephemere Erscheinung mehr“, sondern allumfassend (S. 323). In dieser Phase (1950–1970) spielte Hollywood durchaus eine noch immer starke Rolle, besonders vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. In manchen Ländern jedoch, wie Albanien oder Bulgarien, gab es diesen Einfluss nicht, weil US-amerikanische Filme verboten waren. Im blockfreien sozialistischen Jugoslawien dagegen war die Situation eine ganz andere, US-Stars waren hier die beliebtesten Schauspieler/innen. So hat sich die „europäische Peripherie“ in gewisser Weise an ihr Zentrum angenähert, wenigstens was das Kino betrifft.

Karl Kasers originelle Studie betritt wissenschaftliches Neuland, da „sie erstens weit verstreute Forschungsliteratur zusammenführt, zweitens das Kino in ökonomischer, sozialer, kultureller und politischer Hinsicht breit kontextualisiert, drittens Transfer- und Amalgamierungsformen der visuellen Moderne in den Balkanländern herausarbeitet und viertens die Schlüsselrolle des Kinos in der Vermittlung säkularer Sehkulturen würdigt“ (S. 28). All das wird sehr anschaulich und lesenswert dargestellt. Da gerade regionale Überblicksdarstellungen zu Film- und Kinogeschichte, speziell des Balkanraumes, rar sind, ist auch vor diesem Hintergrund Kaser das Verdienst zuzuschreiben, in deutscher Sprache eine thematisch breite Darstellung zur Balkanfilmgeschichte vorzulegen, weshalb dieser Arbeit eine ebenso breite Aufmerksamkeit zu wünschen ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. Radina Vučetić, Kauboji u partizanskoj uniformi (Američki vesterni i partizanski vesterni u Jugoslaviji šezdesetih godina 20. veka, in: Tokovi istorije 2 (2010), S. 130–151.
2 Nur beiläufig taucht „Winnetou“ von 1963 in der Filmografie auf; vgl. S. 347.
3 Vgl. Dario Vidojković, Von Helden und Königsmördern. Das deutsche Serbienbild im öffentlichen Diskurs und in der Diplomatie, Wiesbaden 2015, hier Kapitel B: Wahrnehmungen vom Balkan und Orient im 19. und 20. Jahrhundert, S. 80–121.